Märkte

Para­digmen­wechsel: Gewöhn­ung an höhere neutrale Zins­sätze

LIQID Smart Letter

Mai 2024

Das Wichtigste in Kürze:

  • Die erste große Zentralbank hat ihre Zinsen gesenkt, die Europäische Zentralbank könnte im Sommer nachziehen.
  • Nach der Finanzkrise befanden sich die Zinsen der großen Notenbanken auf einem historisch niedrigen Niveau. Heute sieht die Investitionslandschaft ganz anders aus.
  • Es ist unwahrscheinlich, dass die Zinssätze auf das Niveau vor der Pandemie zurückkehren werden. Das aktuelle Umfeld bietet somit  breitere Anlage- und Diversifizierungsmöglichkeiten.

Im Vorfeld der erwarteten Zinssenkungen durch die Zentralbanken fragen sich die Anleger, wo sich die Zinssätze letztlich stabilisieren könnten und betrachten die „neutralen” Zinssätze. Gemeint ist das Zinsniveau, das mit Abschluss der mittelfristig erwarteten Zinssenkungen langfristig erreicht werden soll. Wir halten die derzeitigen Zinsen für restriktiv, aber eine Rückkehr zu den sehr niedrigen Zinssätzen der letzten anderthalb Jahrzehnte ist unwahrscheinlich. Für Anleger sind das gute Neuigkeiten, denn diese neue Ordnung dürfte breit angelegte Chancen in einem Anlageklassen übergreifenden Portfolio bieten.

Trotz der überraschend robusten US-Wirtschaft und des später als erwartet einsetzenden Zinssenkungszyklus in den USA sind wir der Ansicht, dass sich die Leitzinsen der Zentralbanken derzeit noch in einem restriktiven Bereich befinden. 

Die Schweizerische Nationalbank hat als erste große Zentralbank die Zinssätze gesenkt und die Europäische Zentralbank (EZB) dürfte im Juni nachziehen. Wir gehen weiterhin davon aus, dass auch die US-Geldpolitik noch in diesem Jahr eine Wende vollziehen wird. Angesichts der sich abzeichnenden Zinssenkungen verlagert sich der Fokus der Anleger auf das Tempo der kommenden Anpassungen und auf die Frage, wo sich die Zinssätze letztendlich stabilisieren werden. 

Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept eines „neutralen” Leitzinses, der die Wirtschaftstätigkeit weder stimuliert noch bremst und damit Vollbeschäftigung und stabile Inflation ermöglicht. 

Fundamentaldaten verändern sich

Seit den 1990er Jahren und insbesondere in der Zeit nach der globalen Finanzkrise sind diese neutralen Zinssätze kontinuierlich gesunken. Seit 2008 haben das „Deleveraging” nach der Finanzkrise und unzureichende Investitionen in die Infrastruktur die neutralen Raten gesenkt. Gleichzeitig hat sich das Produktivitätswachstum verlangsamt und ist in den USA auf unter 1 Prozent gefallen. Infolgedessen waren die Zinsen in der Zeit nach der globalen Finanzkrise ungewöhnlich niedrig (s. Abb.1). 

Heute sieht die Investitionslandschaft ganz anders aus. Geopolitische Spannungen, Klimasorgen und Fortschritte in der Künstlichen Intelligenz treiben nun massive Investitionen in die nationale Sicherheit, die Widerstandsfähigkeit der Lieferketten, die Energiewende und die Technologie voran. Gleichzeitig wird erwartet, dass der technologische Fortschritt und die Künstliche Intelligenz das jährliche Produktivitätswachstum in den kommenden Jahren steigern werden. 

Quelle: LIQID, Bloomberg. Leitzins der US-Notenbank FED und der Europäischen Zentralbank (FED). Zeitraum: 31.12.1998 - 31.04.2024.

Rückkehr zum Niveau vor der Pandemie unwahrscheinlich

Wir glauben, dass das neutrale Zinsniveau für die US-FED Funds Rate bei etwa 3,5 Prozent (real 0,5-1 Prozent, bereinigt um die Trendinflationsraten) und für den EZB-Einlagensatz bei 1,5-2 Prozent im Euroraum (real etwa 0 Prozent) liegt. Sofern es nicht zu einem externen Schock oder einem unerwarteten Kreditereignis kommt, werden die Zentralbankzinsen nicht auf das außergewöhnlich niedrige Niveau nach der Finanzkrise zurückkehren. 

Im Laufe dieses Jahres rechnen wir mit zwei bis drei Zinssenkungen des US-FED-Funds-Satzes und drei bis vier Senkungen des EZB-Einlagensatzes, mit einem datenabhängigen Pfad für 2025. Die Normalisierung auf neutrale Zinssätze wird einige Zeit in Anspruch nehmen, insbesondere in den USA, wo das Wachstum stärker und die Inflation stabiler ist.

Zinssenkungen sind in der Regel vorteilhaft für risikoreiche Anlagen, wenn sie mit einem stabilen Wirtschaftswachstum einhergehen. Unseres Erachtens bietet das aktuelle Umfeld einen solchen Hintergrund, aber die Aktien- und Kreditmärkte haben dies bereits weitgehend eingepreist. Ein Aufwärtstrend gegenüber den aktuellen Niveaus muss daher in erster Linie von verbesserten Fundamentaldaten ausgehen – wie z. B. einem soliden, breit angelegten Gewinnwachstum – und nicht von niedrigeren Zinssätzen. Die Renditen von Staatsanleihen weisen ungewöhnliche Schwankungen auf, da die Anleger versuchen, das für den Konjunkturzyklus angemessene geldpolitische Niveau und das langfristige strukturelle neutrale Niveau zu beurteilen.

Was heißt das für die Märkte?

Da die Zinssätze mittelfristig höher bleiben werden als vor anderthalb Jahrzehnten, stellt dies eine deutliche Abkehr von der Nullzinspolitik oder sogar der Negativzinspolitik des Jahrzehnts vor der Pandemie dar. Während die Nullzinspolitik-Periode für viele risikoreiche Anlagen außerordentlich günstig war, bietet das von uns beschriebene Szenario höherer Zinssätze breitere Anlage- und Diversifizierungsmöglichkeiten aus einer anlageklassenübergreifenden Perspektive.