USA: Warum die US-Wirtschaft trotz höherer Zinsen weiter floriert
LIQID Smart Letter
Juni 2024
Das Wichtigste in Kürze:
- Nach den schnellen Zinsanstiegen der vergangenen zwei Jahre ist die erwartete Rezession in den USA nicht eingetreten. Im Gegenteil sogar, die US-Wirtschaft hat sich deutlich besser entwickelt als angenommen.
- Strukturelle Veränderungen haben dazu geführt, dass die Wirtschaft mittlerweile weniger empfindlich auf höhere Zinsen reagiert als dies in der Vergangenheit der Fall war.
- Dennoch gilt aus unserer Sicht: Je länger die Zinsen hoch bleiben, desto stärker sind die möglichen negativen Auswirkungen auf das Wachstum der US-Wirtschaft.
Im vergangenen Jahr prognostizierten viele Experten eine Rezession der US-Wirtschaft, da der Leitzins innerhalb weniger Monate von 0,25 auf 5,5 Prozent angehoben wurde. Erwartet wurde, dass die Erhöhung Investitionen und Nachfrage bremsen und das BIP-Wachstum in den negativen Bereich drücken würde.
Überraschenderweise ist die Wirtschaft in den USA jedoch weiter gewachsen (s. Abb.) und die Wahrscheinlichkeit einer Rezession bleibt gering. Dies ist im Wesentlichen auf drei Faktoren zurückzuführen: strukturelle Veränderungen, die Widerstandsfähigkeit des Privatsektors und hohe Staatsausgaben.
Erstens: Strukturelle Veränderungen verringern Zinssensitivität
Der Übergang zur digitalen Wirtschaft hat zu einer deutlichen Verlagerung von Investitionen in Sachanlagen wie Gebäuden und Ausrüstungen hin zu Software geführt. Heute fließt ein Drittel der Unternehmensinvestitionen in Software, die weniger empfindlich auf Zinssätze und Wirtschaftszyklen reagiert als traditionelle Investitionen. Denn Software-Investitionen sind oft langfristiger Natur und werden seltener durch Kredite finanziert, was ihre Zinsempfindlichkeit verringert.
Auch die Arbeitsmärkte haben sich gewandelt, wobei sich die Beschäftigung zunehmend in den Dienstleistungssektor verlagert hat. Dieser ist im Vergleich zum produzierenden Sektor weniger anfällig für Konjunkturabschwünge. Auf den Dienstleistungssektor entfallen heute 85 Prozent der Beschäftigung außerhalb der Landwirtschaft – gegenüber 60 Prozent in den 1960er Jahren. Diese Entwicklung macht den Arbeitsmarkt insgesamt stabiler.
Zweitens: Widerstandsfähigkeit des Privatsektors
Der private Sektor hat seine Vermögenswerte und Verbindlichkeiten gekonnt verwaltet. Diese Fähigkeit hat eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums gespielt. Was meinen wir damit? Viele Unternehmen und Haushalte sicherten sich gegen steigende Zinssätze ab, bevor die US-Notenbank FED begann, die Zinsen anzuheben. Unternehmen gaben festverzinsliche Anleihen aus oder sicherten das Zinsrisiko von Krediten ab, während private Haushalte langfristige Kredite mit Zinsbindung aufnahmen. Darüber hinaus haben gestiegene Vermögenspreise und ein strategisches Cash-Management zu einem Anstieg des Nettovermögens und der Zinserträge geführt, wodurch die Auswirkungen höherer Zinssätze auf Verbindlichkeiten reduziert werden konnten. Man kann also sagen: Unternehmen und Haushalten ist es gelungen, die Belastungen durch höhere Zinsen durch Kapitalanlagen auszugleichen und selbst in Teilen von der Zinswende zu profitieren.
Die Ausgaben der Verbraucher sind daher weiterhin stark, was nach wie vor durch Ersparnisse aus Zeiten der Pandemie und Wertzuwächse von Kapitalmarktanlagen gestützt wird. Dies gilt insbesondere für Haushalte mit höherem Einkommen (die obersten 60 Prozent), auf die 80 Prozent der Konsumausgaben entfallen.
Drittens: Erhöhte Staatsausgaben und straffere Geldpolitik
Die Staatsausgaben haben die Wirtschaft zusätzlich gestützt, wie die ungewöhnlich hohen US-Haushaltsdefizite zeigen. Umfangreiche fiskalpolitische Maßnahmen wie der „CHIPS-Act” und der „Inflation Reduction Act” haben Investitionen und Nachfrage angekurbelt, zum Beispiel im Bereich Fertigungsbau. Rückgänge in anderen Bereichen wie dem Wohnungsbau wurden dadurch ausgeglichen.
Während die Wirtschaftstätigkeit insgesamt weiterhin stark ist, spüren einige Sektoren den Druck der hohen Zinssätze. So hat sich etwa der Wohnungsbau, wie erwähnt, verlangsamt. Die höheren Kreditkosten wirken sich auf einkommensschwächere Haushalte und kleinere Unternehmen aus. Haushalte mit niedrigem Einkommen verfügen in der Regel nicht über Wohneigentum oder Finanzvermögen und sind im Alltag stärker auf Verbraucherkredite angewiesen. Für sie stellen die hohen Zinsen eine deutliche Belastung dar.
Was heißt das für die Märkte?
Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass die unerwartete Widerstandsfähigkeit der US-Wirtschaft auf drei Faktoren zurückzuführen ist. Diese sind: strukturelle Veränderungen bei Investitionen und Arbeitsmarkt, die Resilienz des Privatsektors und umfangreiche öffentliche Ausgaben. Obwohl es Anzeichen für eine Abkühlung der Konjunktur gibt, haben diese Faktoren das Wachstum bisher in der Nähe des langfristigen Trends oder sogar darüber gehalten.
Die längerfristigen Effekte der hohen Zinssätze dürften das reale BIP-Wachstum jedoch letztlich dämpfen. Bei anhaltenden hohen Zinsen sollten die negativen Auswirkungen auf das BIP-Wachstum mit der Zeit immer deutlicher werden. Aus diesem Grund reagieren die Aktienmärkte derzeit euphorisch auf schwache Konjunkturdaten, die Zinssenkungen im laufenden Jahr wahrscheinlicher werden lassen.